Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge

  • AutorInnen: Brigitte Hargasser
  • Brandes & Apsel 2015 (2. Auflage)
  • Fachgebiet:
  • Jugendarbeit

Rezension:

Brigitte Hargasser ist Diplom-Theologin sowie Master of Mental Health und seit vielen Jahren in München in der Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF) tätig, hat mir ihrem Buch die bisher kaum abgehandelte Perspektive auf die stationäre Jugendhilfe in den Fokus genommen.
Hargassers Werk bietet eine umfangreiche Übersicht zum Thema UMF. So leitet sie das Thema mit einer allgemeinen Begriffsdefinierung ein und erläutert die Begriffe Flucht, Migration und Trauma, sie nennt konkrete Zahlen in Bezug auf die Kinderflüchtlinge und erläutert die geltenden Rechte für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Die Autorin beschreibt im ersten Teil des Buches die besonderen Gefahren der Flucht von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Einerseits nennt sie konkrete Gefahren, zum Beispiel die extreme Abhängigkeit von Fluchthelfer*innen, die Bedrohung durch Grenzsoldat*innen usw. aber sie macht auch aufmerksam darauf, dass all dies in einer Lebensphase geschieht, in der die Kinder und Jugendlichen sich psychologisch und biologisch in der Entwicklung befinden und ohne Schutz und Begleitung von Eltern oder anderen erwachsenen Bezugspersonen sind. Im folgenden Abschnitt kommt die Autorin zur Theorie der sequentiellen Traumatisierung. Die Kinderflüchtlinge haben meistens bereits im Herkunftsland mehrere traumatisierende Situationen erlebt, hinzu kommen traumatisierende Erlebnisse auf der Flucht und die Traumatisierung geht schließlich im Aufnahmeland weiter. Das Leben der Kinder ist geprägt von Unsicherheit (z.B. ob sie im Land bleiben können), wechselnden Betreuer*innen/Bezugspersonen und wechselnde Unterkünfte. Kommt es gar zu einer Ablehnung des Asylgesuchs und einer Rückführung ins Heimatland, kann dies eine weitere Traumatisierung auslösen. Das Verstehen der sequentiellen Traumatisierung ist wichtig für die Akteur*innen in der Flüchtlingsarbeit, besonders für jene, die in stationären Einrichtungen mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen arbeiten, da sieein Teil des Systems sind und mitunter zu Traumatisierungen beitragen. Im letzten Abschnitt des ersten Teils kommt Hargasser auf die Situation der UMF in der stationären Jugendhilfe zu sprechen. Übertragen auf Österreich ist hier die Betreuung im Rahmen der Jugendwohlfahrt gemeint. Es werden verschiedene Spannungsfelder beschrieben, z.B. die relativ große Selbständigkeit der Jugendlichen, die in einem jungen Alter bereits auf eigene Faust die halbe Welt durchquert haben und dann im engen Korsett einer Unterkunft für Minderjährige leben müssen. Im zweiten Teil des Buches beschreibt die Autorin ihre empirische Untersuchung, die zum Ziel hat, Ansatzpunkte zur Verbesserung des Angebots der stationären Jugendhilfe zu finden, um die psychosoziale Lebenssituation von UMF zu verbessern. Die zentrale Forschungsfrage lautet: „Wie kann die stationäre Jugendhilfe verbessert werden, um den Bedarf und Wünschen von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen gerechter zu werden?“ Im Zuge der Untersuchung führte Hargasser Interviews mit sechs ehemals unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Aufgrund der weitaus höheren Zahl an männlichen unbegleiteten Jugendlichen, war es der Autorin nicht möglich, auch weibliche UMFs zu befragen, da hier kein Kontakt hergestellt werden konnte. Aufgrund des besonderen Schutzes von Minderjährigkeit war es notwendig, ehemals minderjährige unbegleitete Flüchtlinge zu interviewen. Im Rahmen der Interviews wurden zahlreiche übereinstimmende Aussagen zu Schwierigkeiten in der Unterbringung im Rahmen der stationären Jugendhilfe getätigt. Das Buch bietet eine prägnante Zusammenfassung zahlreicher Themen, die in Zusammenhang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen relevant sind. Der inhaltliche Aufbau ist nachvollziehbar, allerdings könnte eine Begriffsklärung früher angesetzt werden, um den Einstieg ins Thema zu erleichtern. Die Fragestellung ist wichtig und nachvollziehbar. Allerdings ist die Frage, ob die Fragestellung aufgrund der geringen Zahl an Interviews und der ausschließlich männlichen Interviewten ausreichend beantwortet wurde. Dennoch konnten interessante Erkenntnisse gewonnen werden, die für die Akteur*innen in der Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen relevant und wichtig sind. Das bereits in der 2. Auflage erschienene Buch bezieht sich Großteils auf Deutschland, aber aufgrund der Ähnlichkeit der Situation und des Sozialsystems in Österreich können viele Informationen und Erkenntnisse auf Österreich angewendet werden. Und natürlich haben UMFs in Österreich und in Deutschland ähnliche oder die gleichen Bedürfnisse und Sorgen. Die Ereignisse seit dem Sommer 2015 sollten allerdings in einer überarbeiteten Auflage einfließen. Akteur*innen der Flüchtlingsarbeit finden viele wichtige Anregungen, die auch oder trotz einer riesigen Zunahme an Arbeit und damit verbundenem Druck beachtet werden sollten, da immer das Kindeswohl an erster Stelle stehen sollte.

Rezensiert von Nicole Abdel-Qader, Bildungsmanagerin am wienXtra-institut für freizeitpädagogik

 

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