Der unsichtbare Mensch

  • AutorInnen: Ingrid Brodnig
  • Czernin Verlag, 2014
  • Fachgebiet:
  • Medienbildung

Rezension:

Ingrid Brodnig beschäftigt sich schon lange mit den gesellschaftlichen Veränderungen, die durch und im Internet von statten gehen. Als Leiterin des Medienressorts der Wochenzeitung Falter und mittlerweile als Redakteurin des Nachrichtenmagazins profil berichtet über digitale Themen. 

In Ihrem Buch „Der unsichtbare Mensch“ unternimmt sie den Versuch die Auswirkungen der Anonymität im Web auf die Gesellschaft zu beschreiben. Bereits im ersten Kapitel holt Brodnig weit aus, beschäftigt sie sich mit der Anonymität aus einem historischen Kontext heraus. Sie räumt mit der Vorstellung, dass Anonymität ein relativ neues Konzept sei auf und verweist auf darauf, dass eben über einen langen Zeitraum Anonymität nicht thematisiert wurde, da sie Teil des Alltags war. Am Beispiel des Mittelalters, in dem Menschen weder lesen noch schreiben konnten und auch auf Namen nur wenig Wert gelegt wurde, wird der Stellenwert der Anonymität greifbar. Urheber- und Autorenrechte waren noch kein Thema und bis auf manche bekannte Dichter und Minnesänger auch kaum jemand bekannt. Erst durch die Alphabetisierung der Bevölkerung bekam Anonymität, welches sich vom griechischen Wort „anonymos“ (ungenannt, namenlos – die Quelle eines Textes ist also unbekannt.) einen anderen, bedeutsameren Stellenwert. Am Ende dieses ersten Kapitels formuliert Ingrid Brodnig die wichtigste These des Buches aus: „Nicht die Anonymität ist das Kernproblem der Aggressivität im Netz, sondern das Gefühl derUnsichtbarkeit“ (Brodnig, 2013, S.24).

Im weiteren Verlauf führt sie Beispiele an, die den Anteil des Internets am heutigen Verständnis der Anonymität beschreiben. Michael Anti, ein regimekritischer Blogger aus China, nutzt ganz bewusst die Anonymität, nicht um sich vor der Zensur zu schützen, sondern um die eigene Identität neu zu erfinden. Anti plädiert in seinem Interview für Anonymität, da sie ihm nicht nur ermöglicht, den echten Namen zu verbergen, sondern auch eine neue Identität neue Perspektiven und neue Vorstellungskraft zu erlangen, welche in einer Offline-Identität nicht vorhanden ist. Doch gibt es in der Internetwelt keine klare Positionierung zur Frage der Anonymität. Julya Rabinowich, Schriftstellerin, spricht sich beispielsweise gegen die Anonymität im Netz aus. Aus eigener Erfahrung weiß sie, dass der Umgang miteinander in einer anonymen Masse ruppiger und rauer wird. Man lässt sich leichter zu radikaleren Positionen hinreißen.

An dieser Stelle soll nun auch noch auf den Teilaspekt, wie Anonymität radikalen Gruppen Platz gibt eingegangen werden. Brodnig erörtert dies am Beispiel – stellevertretende für andere radikale, extreme VertreterInnen – von Antifeministen. Menschen, die ganz regelmäßig und akribisch alle Foren abklappern und ihre Meinung zu feministischen Themen posten.
Kleine Gruppen versuchen, teilweise gut koordiniert, mit ihren abgegeben Meinungsbildern das jeweilige Forum zu dominieren. Diese Bilder werden noch durch frauenfeindliche Statements und Unterstellungen „behübscht“. Durch diese beinahe strategische Formierung kommt es zu einer Art Rudelbildung, die eine sachliche, demokratische Diskussion beinahe unmöglich macht. Dadurch wird der Eindruck erweckt, dass radikale Meinungen überproportional in Onlineforen vertreten sind. So kommt Sie am Ende zur Frage, ob die Anonymität abgeschafft werden muss, damit ein respektvoller Umgang sichergestellt werden kann?

In Ihrer Conclusio in Kapitel 5 versucht sie eine Antwort auf die Frage zu finden. Grundsätzlich fordert sie vor allem Websitebetreiber auf, die eigenen Foren aktiv zu betreuen und bei Hasskommentaren nicht einfach wegzusehen. Als Vorzeigebeispiel nennt sie die Online-Foren der Wochenzeitung „die Zeit“. Diese Foren werden von Menschen und nicht von Algorithmen aktiv betreut. Im Community-Redaktionsteam der Zeit sieht man die Foren-Betreuung als Teil der journalistischen Tätigkeit an. Das Team behält sich vor zu entscheiden, welche Kommentar öffentlich werden und welche nicht. Aktive Begleitung durch BlogbetreiberInnen und ForenbetreuerInnen, die mit konstruktiven Post beispielhaft vorangehen; diese Wunschvorstellung verfolgt die Autorin in den letzten Seiten des Buches und fordert hier nicht nur die Poster-Community, sondern auch die eigenen BerufskollegInnen auf, ihrer Arbeit nachzukommen.

Diese Lektüre bietet sowohl EinsteigerInnen als auch WebkennerInnen interessante und spannende Erkenntnisse über die gesellschaftlichen Entwicklungen im Web und was diese mit uns machen.

Rezensiert von Barbara Bretterklieber, Bildungsmanagerin am wienXtra-institut für freizeitpädagogik

In Kooperation mit
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