Putins Krieg gegen die Frauen
- Fachgebiete:
- Medienbildung
- Politische Bildung
- Zusatzinformationen:
- Köln, 2024
Rezension:
Die Autorin hat finnische und estnische Wurzeln. Sie kann aus eigener und familiärer Erfahrung schöpfen, wenn sie das ganz große Fass aufmacht und Russland als Imperium beschreibt, dessen postkoloniale Dekonstruktion noch aussteht. Zugleich weiß sie als aktive Feministin, wo sie genau dafür ansetzen muss, um letztlich zwei schmerzliche Punkte zu treffen.
Europa ist dort am verwundbarsten, wo es um seine Errungenschaften geht: Die emanzipatorische und inklusive Gesellschaft. Und: Europa macht sich verwundbar, weil es der Erfahrungsgeschichte und der die Menschenrechte verletzenden Unterdrückungspolitik der Besatzungsmacht Sowjet-Russland lange keine Beachtung geschenkt hat und auch nicht schenken wollte. Lieber unterstellte es dem russischen Imperium im Gewande der Sowjetunion hehre Ziel, die mehr schlecht als recht umgesetzt würden:
„Die Unlust des Westens, den russischen Imperialismus … zu sehen, hat … zu einer Situation geführt, in der Russland sich jahrelang auf Krieg und Völkermord vorbereiten konnte, ohne dass das im Westen verstanden wurde.“ (119)
Den Link von der Sowjetunion Andopows vor 60 Jahren über die Lenkung der westlichen Friedenbewegung vor 1989 durch den KGB bis zum aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine schafft Oksanen über die Herrschaftstechnik: Der Geheimdienst übernimmt die Macht im Staate und greift mit seinen Methoden nicht nur die eigenen Bürger an, sondern Europa, den Westen und seine Errungenschaften. Die Waffen: Fake News. Verschwörungstheorien. Hass und Mobbing im Netz. Wahlmanipulationen. Realer und virtueller Krieg.
Angriffspunkte sind dabei vorzugsweise Frauen, queere Personen und andere Minderheiten, deren Emanzipation, Selbstbestimmung und Selbstermächtigung den Kern westlicher Demokratien ausmacht. Am Ende geht es darum, diese zu destabilisieren, die Zivilgesellschaft zu verunsichern.
An die Seite der im Westen allgemein geteilten Aufmerksamkeit auf den Holocaust, wenn es um die Zeit des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg geht, tritt bei Oksanen der Verweis auf den Großen Vaterländischen Krieg, in dessen Folge sich Sowjet-Russland die Baltischen Staaten, die Ukraine und Teile Polens einverleibte, von sich abhängige Satellitenstaaten wie Polen, Rumänien, Bulgarien, Tschechoslowakei und die DDR installierte und Staaten wie Finnland und Österreich zur Neutralität erpresste. In diesem kontinentalen Kolonialismus, dessen Tradition auf Katharina die Große zurückgeht, die etwa Sibirien und die Krim dem russischen Reich gewaltsam zuschlug, wurzelt auch, und dies schon lange vor dem Krieg gegen die Ukraine, eine spezifische Entnazifizierungsrhetorik: In den 90er Jahren betraf diese die baltischen Staaten. Heute die Ukraine.
Ziel dieser Rhetorik war und ist: Selbstbestimmung, seien nun damit Personen oder Staaten gemeint, abzusprechen und die zu Kolonisierenden mit Krieg zu überziehen, der sich aber nicht nur gegen Leib und Leben von Kombattanten richtet: Zum Spezifikum sowjet-russischer Kriegsführung, der Massenvergewaltigung, nicht nur, aber vor allem von: Frauen, gesellt sich der Krieg gegen Kultur und Erinnerung: Kulturgüter werden gezielt vernichtet, Denkmäler, wie das von Babyn Jar, gehörten zu den ersten Angriffszielen des brutalen Überfalls im Frühjahr 2022. Eine eigene Sprache wird den zu Unterwerfenden abgesprochen. Sie werden entweder entmenscht, wie etwa schon die Tschetschen*innen, oder aber der Umerziehung zu "Kleinrussen" unterworfen. Liquidation, Deportation und Kindsentführungen sind selbstverständlicher Teil dieser kolonialen Verbrechen.
Ein weiterer geheimdienstlich gelenkter Schachzug Russlands war es, Sammlungsbewegungen selbsternannter Opfer der Umbruchjahre nach 1989 und der Pandemie zu unterstützen und damit Revanche und Ressentiment als politische Größe in den Demokratien des Westens zu etablieren. In Deutschland kann man dies nicht nur in den Parteien AfD und BSW verorten, sondern überhaupt in der nach 1990 konstruierten ostdeutschen Identität.
Wer sich allerdings in den 1990er Jahren auf der Verliererseite sah, das waren Hunderttausende staatliche und geheimdienstliche Mitarbeiter*innen, Parteikader, nutznießende Mitläufer*innen der totalitären Regime und Spitzel. Der gesellschaftliche Umbruch der 1990er Jahre wurde von diesen nicht als Befreiung erlebt, nicht als Selbstermächtigung der allgemein totgesagten Zivilgesellschaft, sondern als Zeit des Chaos, der Wirren und der Unsicherheit, ja des Verrats und des Dolchstoßes. Die Erzählung von einer feindlichen Übernahme durch Kapitalismus und Demokratie rückte die Verantwortung für die Realität: ein von diesen Eliten getragenes menschenfeindliches Regime, ein von ihnen in Grund und Boden gewirtschaftetes marodes System, in den Hintergrund. Vor jenem inszenierten Trauma traten alle Verbrechen vor 1989 zurück: Sei es das System Gulag, sei es Völkermord (Holodomor), Massenhinrichtungen, Deportationen oder staatliche Repressionen, Zensur und Überwachung. Aber auch die Kriege. Sei es der, der mit dem Hitler-Stalin-Pakt begann, seien es die Kriege gegen Finnland, Afghanistan, Tschetschenien, Georgien oder die Ukraine.
Als persönlich und familiär vom sowjet-russischen Kolonialismus Betroffene gibt uns Oksanen ein Bewusstsein für die Vielfalt von Traumata und Erinnerung, wie sie eine inklusive Gesellschaft aushalten muss: Wenn am 8. Mai Deutschland und Österreich den Tag der Befreiung begehen und Russland den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg mit einem militärischen Aufmarsch feiert, denken andere in der Ukraine, in Polen, im Baltikum, aber auch in Ungarn, Rumänen, Bulgarien, in Tschechien oder der Slowakei lebende Personen, aber auch in der DDR geborene daran, dass sich damit der koloniale Hitler-Stalin-Pakt erfüllt hatte, der sie als gewaltsam eroberte Teile dem sowjet-russischen Imperium zugeordnet hatte. TPE