Verkehrungen ins Gegenteil. Über Subversion als Machttechnik.
- Fachgebiete:
- Medienbildung
- Politische Bildung
Rezension:
Der schmale Band ist Teil einer Reihe des Matthes und Seitz Verlages, die in einem handlichen Format Werkzeuge, Begriffe, Konzepte und Ideen präsentiert, mit denen wir die Welt und das, was sich gegenwärtig in ihr tut, besser fassen und (be-)greifen können.
Die Autor*innen kommen aus unterschiedlichen Wissensgebieten. Sylvia Sasse, die sich mit Umwertungen und Verkehrungen, wie etwa die „Täter-Opfer-Umkehr“, beschäftigt, ist Slawistin und Literaturwissenschaftlerin. 1968 in der DDR geboren, ist ihr die Thematik nicht fremd, wurde doch damals die Berliner Mauer, ähnlich eines heute als Spezialoperation umetikettierten Krieges, der vorgibt, die Ukraine zu entnazifizieren, als antifaschistischer Schutzwall bezeichnet und damit zugleich die westliche Demokratie als Faschismus denunziert. Dagegen benannte sich die DDR selbst, die ihre Bürger*innen hinter dieser Mauer wegsperrte, als eine Demokratische Republik und ihre Ideologen denunzierten die Meinungsfreiheit im westlichen Europa als gelenkt und unfrei, während ihr Apparat jede Äußerung einer freien Meinung verfolgte und bestrafte.
Realität wird als Fiktion geleugnet, Fiktion als Realität etabliert, fake news, Verschwörungserzählungen und alternative Fakten an ihre Stelle gesetzt. So wurde etwa in der DDR verbreitet, dass der HIV-Virus in einem US-Labor hergestellt worden sei oder amerikanische Flugzeuge in der Nacht Kartoffelkäfer abwerfen würden, um die sozialistische Ernte zu zerstören … Oppositionelle, Intellektuelle oder Kreative, die diese Welt alternativer Fakten in Frage stellten, wurden dagegen isoliert und, wie es im offiziellen Jargon hieß: zersetzt.
„Diktaturen und Populisten sorgen dafür, dass Fakten und Fiktion verschwimmen. Das ist für sie existenziell. … Für autoritäre Systeme stellt die Realität die größte Bedrohung dar. Deshalb muss sie verborgen, verschleiert oder durch alternative Erzählungen ersetzt werden. … Zu erkennen, wenn der öffentliche Diskurs und die Lebenswirklichkeit nicht übereinstimmen, ist eine Lektion fürs Leben.“ (Saskia Sasse)
Interessant dabei ist, dass die Technik der Verkehrung zunächst eine subversive von Minderheiten war, d.h. von unten kam: etwa im Karneval, im Märchen oder den künstlerischen Aktionen osteuropäischer Dissidenten. Wir finden sie aber auch beim Braven Soldaten Schwejk, bei Till Eulenspiegel oder Pipi Langstrumpf. Sie sind aber auch Teil des linken Aktivismus, von widerständigem Verhalten oder von Sub- bzw. Jugendkulturen, auch und gerade in den Kämpfen um Anerkennung und Teilhabe.
Sasse beobachtet nun, wie diese Technik „von oben“ angeeignet wurde. Etwa unter dem Titel Disruption. Hier wird Subversion zu einer Machttechnik derer, die Machtpositionen innehaben und in dieser Funktion staatliche Institutionen zerstören, Zivilgesellschaft unterdrücken und NGO’s verbieten, wozu sie sich als Populisten oder autoritäre Machthaber die Legitimation der Masse holen, die sie zugleich über dieser Technik beherrschen. Sie dient nun dazu, Menschen ideologisch zu lenken, ihre Freiheit zu beschränken und ihre Meinung zu unterdrücken.
Es ist also kein Zufall, dass uns die Putins, Trumps, Musks, Erdogans und Orbans wie Trottel erscheinen: Man kann sich aussuchen, wer dabei die Nase Schwejks, die Haube Tills, die Strumpfhosen Pipis oder aber einen Schnauzer trägt, ist doch unter ihnen mindestens einer, der an demselben Defekt des rechten Arms zu leiden scheint, wie Dr. Strangelove. Der Unterschied zu all den Figuren subversiver Verkehrungen ist nur: Es geht nicht um Ironie, nicht um Symbolisches, ja das Lachen, wenn der „Kaiser“ nackig gemacht wird, bleibt uns plötzlich im Halse stecken, denn es geht nun darum, Sprengsätze an das Reale zu legen: Minderheiten und Meinungen zu unterdrücken. Lebensformen zu verbieten. Menschen auszuschließen. Verkehrungen sind plötzlich eine Form von medialem oder staatlichem Terror geworden. Eine Machttechnik der Majorität.
Bekannt geworden ist Sasse durch die Entlarvung einer prominenten Fälschung: Schließ die Augen und denk an die „Große Sozialistische Oktoberrevolution"! Russland 1917. Oder googel den „Sturm auf das Winterpalais“! Großteils wird genau ein Foto damit assoziiert bzw. wird dir die Recherche genau dieses eine zeigen. Seit über hundert Jahren beherrscht es den Diskurs weltweit: Eine geordnete Masse stürmt den Palast. Was auf dem Bild fehlt: Der Regieturm. Die Zuschauer. Sie wurden dilettantisch wegretuschiert. Das Foto stammt aus dem Jahr 1920. Eine Reinszenierung des vermeintlichen Sturms. In Wahrheit gab es nur einen kleinen Haufen Milizionäre, die ein Palais besetzten, das die Regierung längst verlassen hatte. Nur den roten Stern über den Eingang hatte man auf dem Bild nicht wegretuschiert. (Vermutlich hatte es sich keiner der das Bild Bearbeitenden getraut. Man konnte damals schnell in Ungnade fallen.) Wer genau hinsah, hätte die Fälschung jederzeit erkennen können. Er hätte es nur wollen: im Westen, oder den Mut dazu haben müssen: im Osten. Bald werden wir angesichts von allgegenwärtigen Verkehrungen und Fakes wohl beides brauchen. TPE