Jugendarbeit, Polizei und rechte Jugendliche in den 1990er Jahren Ergebnisse und Perspektiven

  • AutorInnen: Herausgegeben von: Vero Bock, Lucia Bruns, Christin Jänicke, Christoph Kopke, Esther Lehnert und Helene Mildenberger
  • Weinheim, Basel 2023
  • Fachgebiete:
  • Jugendarbeit
  • Politische Bildung

Rezension:

In den 1990er Jahren kam es in ganz Deutschland zu rechten Gewalttaten und rassistischen Ausschreitungen. In den neuen Bundesländern im Osten erfolgten diese jedoch am helllichten Tag und unter dem Beifall der Bevölkerung. Für manche sind die in den sogenannten Baseball-Schläger-Jahren »National befreiten Zonen« bis heute eine Erfolgsstory im Kampf gegen Vielfalt und Demokratie. Viele Funktionäre und Zuarbeiter einer Partei, die derzeit in Deutschland jeder fünfte, im Osten jeder dritte, wählen würde, haben in ihrer Jugend hier tatkräftig mitgetan.

Das Buch zum gleichnamigen Forschungsprojekt enthält, neben neuen geschlechterreflektierenden, antisemitismus- und rassismuskritischen Perspektiven und dem dokumentierten Versagen polizeilicher Arbeit, auch ein Lehrstück für die Offene Jugendarbeit, traf diese doch nach dem Fall der Mauer auf ein Feld, wo es sie bis dahin noch nicht gegeben hatte.

Schnell wurden Konzepte aus dem Westen Deutschlands übertragen: Mittels der Modernisierungsopfertheorie (Heitmeyer) wurden Täter zu Opfern, denen sich die Jugendarbeit nun verstärkt zuwendete. Und das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit, es stammte ursprünglich aus dem Bereich der Drogenarbeit, also der Arbeit mit einer vorrangig sich selbst gefährdenden Zielgruppe, wurde auf die Arbeit mit rechtsradikalen Cliquen und Schlägern übertragen (Krafeld). Damit sollte schnell umgeschultes und in der Demokratie noch nicht angekommenes Personal als Feuerwehr arbeiten. Was dabei herauskam, lässt eher einen Blackout vermuten:

„Heute gehört uns die Aufmerksamkeit der Jugendarbeit, der Jugendtreff, morgen die Stadt und übermorgen …“, müssen jene sich immer mehr radikalisierenden Jugendlichen damals gedacht haben, als sie Unterkünfte der Flüchtlingshilfe in Brand setzten oder von ihnen als fremd gelesene Menschen und „Linke Zecken“ durch die Straßen jagten. Am Ende stand die Mordserie der verheerendsten rechten Terrororganisation in der Geschichte der Bundesrepublik: Der NSU-Komplex. Sozialisationsinstanz: Die Offene Jugendarbeit!

Aber warum ausgerechnet und immer wieder der Osten? Auch dazu liefert der Band Erkenntnisse. Da ist zum einen die Kontinuität der Gewalt, wie sie zuletzt auch Anne Rabe in ihrer Recherche Die Möglichkeit von Glück bis ins Kaiserreich zurückverfolgt hat: Der Osten Deutschlands war bis 1989 eine gewaltsam homogenisierte Gesellschaft, geprägt durch ein staatliches Meinungsmonopol sowie totalitäre, militärische, paramilitärische und geheimdienstliche Organisationen. Eine Linie, in der sich die lange autoritäre Tradition rabiater Untertanen (Heinrich Mann) fortschrieb. Und eben auch die durch die Generationen weitergereichte Distanz zur Demokratie, die mit negativen Assoziationen und Verschwörungstheorien belastet wurde: Dolchstoß am Ende des 1. Weltkriegs. Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre. Schon hier kam es zu einer ersten Deindustrialisierung, der dann noch weitere folgen sollten: Nach 1945 durch die Reparationen an die Sowjetunion. Nach 1989 durch den Zusammenbruch der staatlich gelenkten Wirtschaft, der allerdings nicht einer maroden, abgewirtschafteten und hoch verschuldeten staatlich gelenkten Wirtschaft angelastet wurde, sondern der Treuhand-Gesellschaft und über diese dem seit vier Jahrzehnten demokratisierten Westen Deutschlands.

Dagegen wurden die Phasen des Aufbruchs innerhalb autoritärer und totalitärer Strukturen positiv besetzt: Die Gründerzeit im Kaiserreich. Die Kriegswirtschaft nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Die Kollektivierung und Verstaatlichung nach der Gründung der DDR.

Auch gibt es eine ebenso weit zurückreichende staatlich gelenkte Duldung und Toleranz gegenüber rechtsradikalen und militanten Milieus: Von schlagenden Burschenschaften über paramilitärische Parteiorganisationen bis zu Hooligans, deren Fanatismus und Bereitschaft für die sogenannte Zucht und Ordnung noch in den Akten des Staatssicherheitsdienstes der DDR positiv hervorgehoben wurden.

Und so sind es in den 1990er Jahren in Berlin-Lichtenberg auch und gerade Funktionärskinder der dort wohnhaften ehemaligen Mitarbeiter der Staatssicherheit, die für die rechte Gewalt auf den Straßen sorgten. Aber waren sie Modernisierungsverlierer? Gegenüber den Opfern ihrer Väter aus den Jugendwerkhöfen und Gefängnissen, mit ihren gebrochenen Biographien, Ausbildungen, ja Ausbildungsverboten, hatten jene 1989/90 einen erheblichen Startvorteil.

Erstaunliche Parallelen bieten sich an: So erinnern die Strategien des sozialpädagogischen Umgangs mit den rechten Jugendlichen Anfang der 1990er Jahre an das Konzept des Wandels durch Annäherung: Nach diesem wurde nicht etwa die sich formierende demokratische Opposition im Ostblock vor 1989 gestärkt, sondern das Gespräch beinahe ausschließlich mit den Machthabern und also Tätern gesucht. Einzelne Episoden erinnern an den unmittelbar daran sich anschließenden Umgang mit Russland: Wandel durch Handel. Wandel durch Konsum. Von der Eröffnung der ersten McDonald‘s Filiale in Moskau hatte man sich damals ganz offenbar dasselbe versprochen, wie die Jugendarbeit davon, dass ein rechter Jugendlicher immerhin in den Jugendtreff komme und einen Walkman und eine Freundin habe. Als Fluchtpunkt dieser Art von Integration, könnte man noch ergänzen: Und sich mit dieser im Mäkki verabredet.

Aber vielleicht ist genau das auch der Schlüssel für die 1990er Jahre: Die Transformation und Integration von rechten Jugendlichen in eine demokratische Gesellschaft, der sowjet-russischen bzw. ost-deutschen Gesellschaft in Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, hat womöglich nicht funktioniert, weil sich Zivilgesellschaft über Teilhabe und Produktion definiert, nicht über Konsum, Belehrung oder Hilfsangebote. Über Aktivität, also Mitbestimmung und Partizipation, nicht Passivität. Zumindest war dies nach 1945 im Westen Deutschlands der Fall: Re-Education und Wirtschaftswunder gingen Hand in Hand, während sich im Osten, nach 1989, viele nur als Konsumenten und Bedürftige wiederfanden. Vielleicht war es ja genau diese passive Position, die sich, angereichert mit zweifelhaften Reminiszenzen aus der nationalen Geschichte, in gewalttätigem und mörderischen Aktionismus als Kollektiv radikal und brachial neu erfand: Ostdeutsche in Ostdeutschland. Eine Identität, die es so vorher nie gegeben hatte.

Aber warum ist das auch interessant für die, die weder im Osten Deutschlands sozialisiert wurden noch dort leben? Dieses Lehrstück von einem nie dagewesenen demokratischen Grundkonsens erzählt womöglich zugleich von einem großen Verlust, dem unseres demokratischen Selbstverständnisses. Unserer Orientierung an Werten wie Vielfalt und den Menschenrechten.

Dieses Buch bietet ein einzigartiges Lehrstück und lädt dazu ein, Jugendarbeit, besonders in Zeiten, wo die einen sich radikalisieren und die anderen um Leib und Leben fürchten müssen, ja Demokratie als gefährdet erscheint, noch einmal ganz von vorn verstehen zu wollen. TPE

Am 19. Juni 2024 wird es am IFP von den Autor_innen präsentiert. Online. Schon heute kann es in unserer Fachbibliothek ausgeliehen werden.

Siehe auch: https://we.riseup.net/assets/145824/ZDK%20Keine-Akzeptanz-von-Intoleranz2.pdf

In Kooperation mit
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