Schwerpunkt Inklusion

  • AutorInnen: Bücher zu Inklusion
  • Fachgebiete:
  • Jugendarbeit
  • Politische Bildung
  • Soziologie

Rezension:

In der WIENXTRA-Fachbibliothek am IFF gibt es viele Zugänge zum Thema Inklusion. Es gibt grundsätzliche Streitschriften, wie die von Hannah Wahl (Radikale Inklusion) oder Spielesammlungen (Die 50 besten Spiele zur Inklusion; Die Stadt erleben, 50 erlebnispädagogische Aktionen für Menschen mit Beeinträchtigungen), es gibt Bücher zu medienpädagogischen (Medienpädagogik der Vielfalt – Integration und Inklusion) oder jugendkulturellen Ansätzen (Inklusion aus jugendkultureller Perspektive), Bücher, die den direkten Link zur Offenen Kinder- und Jugendarbeit wählen (Chillen inklusive; Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit), es gibt Praxisbücher (Das Kind, das aus dem Rahmen fällt. Wie Inklusion geling.), es gibt eine Anleitung für Leichte Sprache (Leichte Sprache verstehen), aber auch Bücher in Leichter Sprache (Social Media – Cybermobbing – Deine Daten im Web; Frau. Mann. Und noch viel mehr.) und es gibt Berichte von Betroffenen (Angry Cripples. Stimmen behinderter Menschen gegen Ableismus; Behindert und stolz - Teilhabe ist Menschenrecht) und vieles andere mehr.

Es gibt aber auch Bücher, die einen viel allgemeineren Zugang eröffnen, etwa über die die inklusive Stadt (Täglich) bzw. solche, die Inklusion aus dem Blickwinkel vermeintlich Nichtbetroffener thematisieren (Ent-hinderung). Damit aber sind wir bei Zugängen, die einen Perspektivenwechsel vorschlagen: In ihrem Buch Ich und die Anderen macht Isolde Charim das ganz große Fass auf: Wir leben in einer Transformationsgesellschaft. Die Veränderung betrifft vor allem eine grundlegende Pluralisierung: Unsere Gesellschaft ist so divers wie nie zuvor. Und sie fährt genau damit immer weiter fort. Isolde Charim präsentiert zwei Formen, wie wir auf diese Transformation reagieren: Erstens, wir versuchen diese Entwicklung mit alten Konzepten, die uns wieder Einheit, Einheitlichkeit, Territorium, Kollektiv, Gesundheit, Norm (-alität) und Ganzheit versprechen, zu leugnen und sagen zu dieser Entwicklung ganz deutlich: NEIN!

Oder Zweitens, wir sagen: JA! Und damit erkennen wir die Pluralisierung nicht nur an, sondern, wir wollen auch in einer inklusiven Gesellschaft leben.

Was aber bedeutet dann eigentlich: Inklusion?

Zunächst einmal könnte man vielleicht sagen: Inklusion schließt niemanden aus. Inklusion hört damit auf, dass es so etwas wie Normalität, eine überschaubar abgegrenzte Territorialität, die Mehrheit und im Gegensatz dazu auch noch so etwas wie Minderheiten gibt.

Inklusion hieße dann: Es gibt nur noch Minderheiten. Individuen. Singularitäten. Und die sind in ihren Perspektiven auf sich, die anderen, auf die Gesellschaft und die Welt um sie herum, grundsätzlich beschränkt. Inklusion anzuerkennen, hieße dann: Diese grundsätzlich perspektivische Beschränktheit, man könnte auch Behinderung oder Einschränkung dazu sagen, anzuerkennen. Anders also als jene Re-Territorialisierer wissen diese, die Inklusion grundsätzlich bejahen, also genau darum: Dass ihre Perspektive nur eine radikal begrenzte ist. Und vielleicht auch: Dass sie, wie bei der Angabe ihrer Pronomen etwa, mindestens zwei andere (Perspektiven) brauchen, um etwas von sich preiszugeben. Zu erfahren. Anderen zu begegnen. Kurz: Welt sich anzueignen.

Isolde Charim benutzt, um eine, die Pluralisierung bejahende Gesellschaft, zu beschreiben, dass in Wien einst viel diskutierte Bild der Begegnungszone.

Yascha Mounk (Das große Experiment) hat eine Vision: der öffentlichen Park.

Ein anderes Bild der Multi-Perspektiven, und auch dieses Buch befindet sich in unserer Bibliothek und wir nähern uns ihm sogar in einem eigenen Lesekreis, findet sich in Christina Morales Roman Leichte Sprache. Morales gelingt es, die Gattung Roman unter dem Titel Inklusion überhaupt neu zu erfinden: Der Roman ist multiperspektivisch: Vier Frauen, alle mit einer Diagnose belastet, leben in einer betreuten WG im modernen Barcelona und versuchen sich an einer eigenen Sprache und einem selbstbestimmten Leben. Und: Der Roman knüpft an die moderne Perspektive des unzuverlässigen Erzählprozesses an. Was aber diesen Roman von all seinen Vorgängern unterscheidet: Alle vier einzelnen Erzählstränge wissen um ihre Begrenztheit und erzählen sich genau deswegen nur gemeinsam: Multiperspektivisch.

Offenbar brauchen all diese von Morales vorgeführten begrenzten und eingeschränkten Perspektiven sich gegenseitig, um Welt, ja sich selbst als jeweils einzelne zu erfahren. Ihr Mangel wird zu einem Bedürfnis der Auseinandersetzung, des Streits und des Konfliktes, aber auch: Den Mut zu haben, anderen gegenüber ungeschminkt die Wahrheit zu sagen. Dieses Konzept knüpft an Samuel Beckett an. Und, man muss es in diesem Zusammenhang erwähnen: In der Fachliteratur hat sich dafür einst der Terminus Komplementärkrüppel etabliert. Mängel treffen sich, um sich gegenseitig und in Anerkennung ihres je eigenen Mangels positiv zu bestärken.

Oder nehmen wir den Öffentlichen Raum. Die Stadt. Die Agora. Die sozialen Medien. Die Orte also, an denen sich öffentlich Meinung bildet. Wir müssen sie genau als das wiederentdecken: Als Orte, wo sich unsere Meinung, unsere Identität verfertigt. Nicht als Orte, die von vorgefertigten Meinungen, sich verfestigt habenden Versatzstücken und fixen Identitäten besetzt werden. Ist es ein Zufall, dass genau dieses Konzept unter dem Titel Von der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Sprechen von einer Person zum ersten Mal ins Spiel gebracht wurde, die stotterte und von Goethe aus dem Theater gemobbt wurde?

Wir versuchten im Lesekreis, diese Art einer inklusiven und multiperspektivischen Welt in einem Experiment nachzustellen und von dem Konzept der Integration abzugrenzen. Die Anerkennung einer pluralistischen Welt ist offenbar damit verbunden, sich selbst nicht absolut zu setzen, als Norm (al) zu begreifen, sondern in seiner Begrenztheit und Verwiesenheit auf andere positiv zu erfahren. Erst die Multiperspektivität erlaubt es uns, mit Widersprüchen, Ambivalenzen, Unschärfen und Bedeutungsvielfalt umzugehen, ohne diesen, uns selbst und anderen Gewalt anzutun.

Es ist auch ein Konzept, mit dem wir die narzisstische Kränkung verarbeiten können, dass das Ich nicht mehr der Herr im eigenen Haus sei, wie Charim mit Sigmund Freud herausstellt. Es ist am Ende eine positive Antwort auf unsere Unbehaustheit, vor der uns auch keine Parteien, Institutionen, Bewegungen oder kollektive Identitäten mehr retten können, weil sie das Gegenteil von Multiperspektivität versprechen und damit Inklusion grundsätzlich verneinen. Menschen, die sich als normal und neurotypisch verstehen, können von den schnell als beeinträchtigt, beschränkt oder behindert gelesenen nur lernen, dass es genau jene Missverständnisse sind, die am Ende allen Stress machen und nicht die Transformation einer pluralistischen in eine inklusive Gesellschaft. Ganz im Gegenteil: Sie ist unser aller Chance! Eine inklusive Gesellschaft holt zunächst und zu allererst all die aus ihrer Komfortzone, die sich im Normalen und Selbstverständlichen eingerichtet haben. TPE

Termine Lesekreis:

Do, 23.5., 18:00-20:00 Für andere sprechen

Do, 17.10., 18:00-20:00 Mit Leichter Sprache schreiben

Do, 12.12., 18:00-20:00 Besser scheitern

https://www.wienxtra.at/ifp/event/35115/

Keine Anmeldung erforderlich. Termine einzeln wahrnehmbar. Für diese Veranstaltung werden KEINE Teilnahmebestätigungen ausgestellt.

In Kooperation mit
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